Aktivisten auf Augenhöhe

Ein Erfahrungsbericht

„Ihr seid also die Aktivisten?“ werden wir von dem Reporter der Lokalzeitung gefragt, der uns mit prüfendem Blick in großen Schritten entgegenkommt. Zwar bejahen wir, aber eigentlich ist die Frage für mich nicht geklärt. Es klingt als müssten wir nun unsere Rolle einnehmen. Soll unser soeben kennengelernter Bio-Bauer etwa der Gegenpol dazu sein? Wir sitzen zu viert im Sonnenschein auf einer Holzbank vor dem Stall. Die Schwalben schwatzen laut und fliegen geschäftig umher, vereinzelt muht eine der 60 Milchkühe. Reinhard Nagel ist bereits sein ganzes Leben lang Bauer. Landwirt - nein, so will er lieber nicht genannt werden. Mit neun Jahren fing er an auf dem elterlichen Hof zu arbeiten und übernahm früh die Verantwortung für das komplette Hofgeschehen. Ein Leben lang hat er die Abläufe auf seinem Hof genau analysiert. Neue Mittel und Techniken wurden ausprobiert und durften bleiben oder weichen, egal was der Zeitgeist vorschrieb. Heute präsentiert Reinhard Nagel stolz seine Zweinutzungsrassen (Rotes Höhenvieh, Fleck- und Braunvieh) mit muttergebundener Kälberhaltung, den vollautomatischen Melkroboter, zu dem die Kühe von allein hingehen und sich anstellen können und den fast vollständig geschlossenen Futterkreislauf mit Kleegras.

„So viel zur Harmonie, aber gibt es nicht doch auch irgendwelche Punkte, wo es hakt?“ versucht es der Reporter. Wir, die „Aktivisten“ namens Leo und Kaja, sind zum ersten Mal auf einem Milchviehhof. Ressourcenverbrauch, vor allem von Wasser und Landwirtschaftsfläche, Treibhausgasemissionen aus Tierhaltung und Transport, Tierleid – all diese Themen und Bilder tragen wir, wie viele andere, in unseren Köpfen mit uns herum. Aber wären mehr Höfe so organisiert wie der, den wir besuchen, wäre damit nicht schon einiges sehr viel besser? Ja, denn durch eine flächengebundene Tierhaltung, bei der das Futter lokal in Form von Kleegras produziert wird, baut sich der Humusanteil im Boden sogar stückweise wieder auf und die Wasserspeicherkapazität steigt. Auch die in Umlauf gebrachte Nährstoffmenge wäre leichter zu managen. Nicht zuletzt enthält der Mist, der mit gut verdaulichem Futter entsteht, laut Reinhard Nagel weniger Stickstoff pro Kilogramm als in der Intensivlandwirtschaft. Letztere importiert große Mengen an nährstoffreichem Soja als Futtermittel aus anderen Ländern. Der Nährstoffimport sammelt sich in Deutschland an, eine Einbahnstraße an Stickstoff, die uns seit Jahren große Probleme mit Einträgen ins Grundwasser bereitet und dessen Aufbereitung wir indirekt bereits bezahlen. In puncto Moral, muss jedoch jede:r für sich die Entscheidung treffen, ob man Tierprodukte konsumieren möchte. Aber auch hier sollte nicht versucht werden Menschen durch Begrifflichkeiten gegeneinander auszuspielen. Ja, unser gemeinsames Abendessen war vegan und es hat allen sehr gut geschmeckt (nein, wir haben es nicht erwähnt). Denn Reinhard Nagels jahrelanges politisches Engagement zusammen mit anderen gegen die Systeme der Agrarindustrie und die Macht von Großkonzernen ist mindestens genauso viel wert.

Als Resümee bleibt, dass Aktivismus vielfältig sein kann - nicht immer absolut, nicht dagegen, sondern vor allem gemeinsam mit Lösungen und Engagement für die Sache. Wir trafen auf offene, herzliche Menschen und wünschen uns, dass noch viel mehr Menschen diese Gelegenheit des direkten Austausches bekommen. Eigene Erfahrungen helfen Brücken zu bauen und Verständnis für andere Perspektiven zu erlangen, etwas was unsere Gesellschaft für die Zukunft immens stärken kann.

Kaja Häntsch (31) studiert in Göttingen Ökosystemmanagement und engagiert sich bei der Klimaschutzorganisation GöttingenZero. Vom 15. bis 18. Juni nahm sie am Projekt Hof mit Zukunft teil.


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