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"Hunger bekämpfen wir nicht mit Gentechnik"

Jeder dritte Mensch auf der Welt weiß nicht, ob sie oder er am nächsten Tag ausreichend zu essen hat. Das sind ungefähr 2,4 Milliarden Menschen, die in mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit leben. Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft, erläutert anlässlich des Welternährungstags am 16. Oktober, warum die Zahlen der Hungernden und Mangelernährten steigen und was dagegen getan werden muss.


Redaktion: Seit sechs Jahren steigt die Zahl der Hungernden. Warum ist das so?

Stig Tanzmann: Das hat unterschiedliche Gründe. Immer mehr Menschen haben keinen oder keinen ausreichenden Zugang zu Land, Saatgut und Wasser. Gleichzeitig haben immer mehr Menschen, die nicht ausreichend Lebensmittel selbst produzieren können, immer weniger Geld. Sie können es sich schlichtweg nicht leisten, genügend Essen zu kaufen. Die Lockdowns während Corona haben diese Problem noch einmal deutlich verschärft. Sie bedeuteten: Keine Arbeit, kein Geld, kein Essen.

Etwa 2,4 Milliarden Menschen leben in Ernährungsunsicherheit, 770 Millionen davon hungern. Was heißt: Hungern?

Das heißt, dass Menschen über Monate hinweg nicht ausreichend zu essen haben. Wenn man das runter rechnet, leidet aktuell jeder neunte Mensch Hunger.

Dabei sind die Getreidelager voll….

… aber viele Staaten können oder wollen nicht dafür sorgen, dass Essen importiert oder richtig verteilt wird. Zusätzlich sind Programme wie das Welternährungsprogramm chronisch unterfinanziert, das heißt sie können nicht ausreichend Lebensmittel bereitstellen für die Hungernden. Auch anderen UN-Programmen, die sich mit dem Aufbau von landwirtschaftlichen Systemen beschäftigen, fehlt das Geld. Außerdem wird Hunger wieder aktiver als Kriegsmittel eingesetzt. Das sieht man jetzt aktuell in Äthiopien und schon länger im Jemen und anderen bewaffneten Konflikten.

Kann man durch Gentechnik den Hunger auf der Welt bekämpfen?

Nein, Gentechnik hat bisher keinerlei Beitrag zur Reduzierung von Hunger geleistet. Wir müssen die strukturellen Ursachen von Hunger angehen und uns nicht in einem technischen Diskurs verlieren. Das Hungerargument sollte und soll wieder eine Technik, in diesem Fall Gentechnik, durchsetzen, doch so wird aus meiner Sicht Aufmerksamkeit und Energie in falsche Bahnen gelenkt. Nur wenn wir uns auf die sozialen Ursachen des Hungers fokussieren, kommen wir zu langfristigen Lösungsansätzen. Das können wir nicht über private Agrarkonzerne mit ihrer Technik tun, sondern über öffentliche Institutionen – nationale und internationale.

Welche Institutionen sind das zum Beispiel?

Aus unserer Sicht sind die wichtigsten Akteure Institutionen wie das UN-Komitee zur Welternährung, landwirtschaftliche Beratungsdienste oder nationalstaatliche Institutionen, die sich unabhängig mit Landwirtschaft befassen und beispielsweise eine agrarökologische Beratung anbieten. Solche Institutionen sollten nicht nur Märkte für lokale Produzent*innen schaffen, sondern auch die von Hunger und Mangelernährung Betroffenen im Blick haben. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind die Schulessensprogramme in Brasilien unter der Arbeiterregierung. Aktuell hat die Privatwirtschaft aber weltweit ihre Ankerpunkte so setzen können, dass der Status Quo bestehen bleibt anstatt dass es endlich Fortschritte gibt. Besonders sichtbar wurde das zuletzt beim vom Generalsekretär der Vereinten Nationen ausgerichteten UN Food Systems Summit im September, der aus unserer Sicht bestehende öffentliche Institutionen geschwächt und nicht gestärkt hat. Die Folgen dieses Handelns sind leider sichtbar: Die Zahl der Hungernden steigt unaufhörlich.

Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die steigenden Zahlen?

Im letzten Jahr ist die Zahl der Menschen, die unter mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit leiden, um 320 Millionen gestiegen. Auch wenn die Zahlen leider seit Jahren wachsen, hat die Corona-Pandemie die Entwicklung nochmal negativ beschleunigt. Viele Menschen konnten aufgrund der Lockdowns nicht mehr arbeiten. Damit hatten sie kein Geld, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Gleichzeitig kam es immer wieder zu Lieferschwierigkeiten. Dazu wurden zur Eindämmung der Pandemie vielerorts Schulen und soziale Einrichtungen geschlossen. Genau die Orte, an denen Menschen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, sonst sicher eine Mahlzeit bekamen. Zusätzlich konnten vielen Bäuerinnen und Bauern ihre Felder nicht bestellen oder abernten.

Hätten da nicht die Staaten oder die internationale Gemeinschaft einspringen müssen?

In vielen Ländern fehlt das Geld, um in Pandemie-Zeiten Alternativen für diese sozialen Sicherungssysteme anzubieten. Und es fehlt nach wie vor eine international abgestimmte Aktion, wie man auf die steigende Ernährungsunsicherheit durch Corona reagiert. Das wäre eine gute Aufgabe für den UN Food Systems Summit gewesen. Wir als Brot für die Welt fordern, dass das Komitee für Welternährung endlich das Mandat erhält, die Hungerkrise in Folge der Pandemie anzugehen. Gerade auch, weil beim Komitee für Welternährung die von Hunger und Mangelernährung Betroffenen selbst mitsprechen können. Das wäre auch auf nationaler Ebene nötig.

Auch in Deutschland?

Ja, klar auch hier. Die von Hunger und Mangelernährung Betroffenen müssen mit in die Lösungen zur Hungerbekämpfung einbezogen werden. Und natürlich die Agrarökologie stärker gefördert werden. Sie reduziert in der Landwirtschaft Abhängigkeiten von sogenannten Inputs wie Saatgut oder Dünger und arbeitet mit statt gegen die Natur. Saatgut und organischer Dünger werden wieder im Betrieb oder in der lokalen Gemeinschaft produziert. Damit ist die Agrarökologie auch weniger anfällig für die Folgen des Klimawandels.

Was muss die neue Bundesregierung dafür tun?

Zum einen: Sie muss das Komitee für Welternährung stärken. Aus Prozessen wie dem UN Food Systems Summit, bei dem die Privatwirtschaft zu großen Einfluss hat, sollte sie sich herausziehen. Zum zweiten muss die neue Bundesregierung ihr großes finanzielles Engagement im Bereich Landwirtschaft und Ernährung weiter ausbauen, dabei aber noch stärker an den betroffenen Gruppen orientieren. Das bedeutet, bestehende Strategien noch stärker auf Agrarökologie und das Recht auf Nahrung auszurichten. Gleichzeitig muss sie drittens entschieden dem Klimawandel entgegentreten, den Kohleausstieg beschleunigen und Waffenexporte in Kriegs- und Krisengebiete einstellen, damit Hunger dort nicht als Kriegsmittel eingesetzt werden kann.


Dieses Interview mit Stig Tanzmann erschien zuerst auf dem Blog von Brot für die Welt. Der Autor ist Referent für Landwirtschaft bei dem evangelischen Hilfswerk.