Kantinen sind Kultur

Die Gemeinschaftsgastronomie hat eine große Einkaufsmacht

Die Gemeinschaftsgastronomie hat eine große Einkaufsmacht. Vor allem Jüngere und Frauen drängen darauf, dass anderes auf den Tisch kommt.

Die erste Arbeiter-Speiseanstalt entstand 1895 bei Bayer in Leverkusen. Wie viele Betriebskantinen es heute in Deutschland gibt ist unklar. Schätzungen gehen davon aus, dass über 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung vor Corona regelmäßig dort gegessen haben – potenziell ein großer Hebel für die Ernährungswende also. Manche Unternehmen betreiben ihre Werksküchen weiter in Eigenregie, immer wichtiger geworden sind aber große Caterer wie Compass, Aramark oder Sodexo.

Gemeinhin gelten Kantinen als Orte, wo es vor allem ums Satt-Werden geht. Man grüßt mit „Mahlzeit“ statt „Guten Appetit“, das Angebot ist oft fleischlastig. Nach wie vor führen Currywurst und Spaghetti Bolognese die Hitliste an. In vielen Fällen sind nicht die Köch*innen für den Einkauf zuständig, sondern Facility Manager*innen – und für die hat billig und personalsparend hohe Priorität. Die Einrichtung der Speisesäle ist funktional und manchmal wenig einladend, häufig ist es laut und in der Luft liegt Fettgeruch - keine Orte, um länger als nötig zu verweilen oder Gemeinschaft zu genießen. Neben der Tellerrückgabe stehen oft große Mülltonnen und belegen, dass die Portionen zu groß oder nicht schmackhaft waren.

Es tut sich was

Doch seit einigen Jahren sind deutliche Änderungen zu beobachten. „Gesundheits- und Nachhaltigkeitsthemen werden öffentlich stark diskutiert, auch übers Essen wird viel gesprochen,“ sagt Jürgen Benad, Geschäftsführer der Fachabteilung Gemeinschaftsgastronomie beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA. Vor allem Jüngere und Frauen verlangen zunehmend vegetarische und vegane Speisen – und weil der Fachkräftemangel zunimmt, versuchen Unternehmen mit Wohlfühlthemen zu punkten. Der Versandhändler Otto hat seine Kantinen neu gestaltet: Aus Holztischen wachsen Pflanzen und die Beschäftigten können zugucken, wie in der Küche geschnippelt wird. Es gibt viel Salat, Gemüse und Vollwertiges, einen erheblichen Teil der Zutaten bezieht das Hamburger Unternehmen aus der Region.

„Es ist eine Herausforderung, die gleichen Gäste jeden Tag neu zu begeistern“, sagt Benad und berichtet, dass das Branchenblatt GV-Praxis Wettbewerbe zwischen Kantinen organisiert oder Events vorschlägt wie eine Brigitte-Diät-Woche. Allerdings treffen Änderungen keineswegs überall auf Begeisterung. Als VW vor Kurzem eine rein vegetarische Kantine eröffnete, hagelte es wütende Kommentare und hämische Artikel. „Auto Motor Sport“ verkündete gleich das Ende der legendären Currywurst, die auf dem Firmengelände in Wolfsburg in einer eigenen Schlachterei hergestellt wird. Auch Ex-Kanzler Schröder empörte sich. Dabei gibt es lediglich in einer der über 20 Werkskantinen nun keine Wurst mehr. Bereits 2018 beim Wechsel des traditionellen Ketchups zu einem weniger zuckerhaltigen Produkt hatte es Proteststürme gegeben.

Den Werktätigen angeblich die Wurst vom Teller zu ziehen, ist ein heikler Vorwurf. „Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!“ behauptete die Bildzeitung im Wahlkampf 2013 und schickte die Bündnisgrünen damit auf Talfahrt. Dabei hatten sie lediglich vorgeschlagen, in Kantinen mehr Pflanzliches anzubieten und einen Veggi-Tag pro Woche zum Standard zu machen.

Anstupsen statt Verbote

Nudging – Anstupsen - ist nach solchen Erfahrungen die Strategie, die Fachleute empfehlen. Statt um Ge- und Verbote geht es um eine attraktive Präsentation der gewünschten Alternative. Wenn Wasserkaraffen auf dem Tisch stehen ist es leicht, auf Softdrinks zu verzichten. Sind die Portionen klein und es gibt die Möglichkeit für einen Nachschlag, landet weniger im Müll. Sieht der Grünkernburger knusprig aus, ist das Tablett schon voll, wenn der Blick am Ende des Gangs aufs Schnitzel fällt.

Eine ähnliche Strategie schlägt der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) für die politische Ebene vor: In der Gemeinschaftsverpflegung sollten die Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) umgesetzt werden. Das bedeutet zwar auch, den Fleischkonsum drastisch zu reduzieren. Doch bei der gewählten Formulierung steht das nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Das Kantinenpersonal braucht Trainings und Weiterbildung

Damit die Ernährungswende vorankommt, braucht es kreatives und gut ausgebildetes Küchenpersonal. Nach Jahrzehnten, in denen immer mehr Vorgefertigtes auf den Tellern landete und Fleisch als Zentrum einer Mahlzeit galt, ist das Umsteuern gar nicht so einfach. Deshalb hat der Berliner Senat das Projekt Kantine Zukunft auf den Weg gebracht. Profi-Köch*innen begleiten Großküchenteams intensiv beim passgenauen Umbau, untersuchen mit ihnen Angebot, Einkauf und Arbeitsabläufe. Ziel ist es zum einen, den Bioanteil ohne Preissteigerung auf 60 Prozent zu erhöhen. Zum anderen geht es aber auch darum, die Beteiligten zum Mitdenken und selbstbewussten Gestalten zu motivieren. Das kostenlose Angebot richtet sich gleichermaßen an Kita-, Unternehmens- und Gefängnisküchen.

Auch der Vegetarierverband ProVeg unterrichtet Kantinenpersonal. Früher ging es bei den vegetarischen und veganen Kochtrainings vor allem darum, der Belegschaft mal für einen Tag etwas Besonderes präsentieren zu können, berichtet die für solche Schulungen Verantwortliche Elisabeth Buchheim. Jetzt wollen immer mehr Tischgäste permanent pflanzliche Gerichte haben. Die Lieferanten haben sich inzwischen darauf eingestellt: Auch Hafer-Sahne oder Soja-Joghurt gibt es jetzt in großen Eimern zu kaufen.

Ernährungswende für die Gesundheit und das Klima

Die erste vegane Mensa in Berlin war in Vor-Coronazeiten völlig überlaufen, einige Studierende haben sogar die Mensa-Revolution ausgerufen. Sie fordern massiv klimafreundliche Kost – und stoßen beim Studierendenwerk auf offene Ohren. ProVeg will demnächst mit mehreren Hochschulmensen in Deutschland ein Pilotprojekt starten und die Planetary Health Diet dort umsetzen. Dieser „Speiseplan für Mensch und Erde“ wurde von einem 37-köpfigen internationalen Forschungsteam entwickelt. Er listet auf, was alle Erdenbürger*innen im Durchschnitt pro Tag essen sollten, um gesund zu bleiben und den Planeten nicht zu ruinieren.

Während sich in Großküchen im ganzen Land was tut, herrscht in den Kantinen der Bundesministerien Stillstand: Viel Fleisch, kaum Regionales oder Bio, hat das Institut für Welternährung festgestellt. Die neue Regierung sollte dringend dafür sorgen, dass bald auch die führenden Beamt*innen was Anständiges auf dem Tisch bekommen.


Annette Jensen ist freie Journalistin und engagiert sich zudem im Ernährungsrat Berlin. Vor Kurzem ist das Buch "Berlin isst anders. Ein Zukunfstmenü für Berlin und Brandenburg" unter ihrer Mitarbeit erschienen.


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