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Ein Landwirt mit tausend Ideen

Fast 2000 Hektar. So groß sind die Flächen des Betriebs, den wir uns an diesem Wochenende über „Hof mit Zukunft“ anschauen. Streng genommen sind es allerdings zwei Betriebe, die Warnke Agrar GmbH und die Elbland P&HgmbH. Beide zusammen werden von Christian Warnke geführt und von seinen Mitarbeitenden gemeinsam bewirtschaftet; wir besuchen ihn für ein verlängertes Wochenende. „Wir“ bedeutet in diesem Fall: Anne und Ella aus Berlin und ich aus Leipzig. Nun sind wir in Cobbel, einem 200-Seelen-Ortsteil von Tangerhütte. Den Namen werden die wenigsten von euch kennen – Tangerhütte liegt auf halber Strecke zwischen Magdeburg und Stendal. Oder anders gesagt: tief in Sachsen-Anhalt.

Was erwartet uns auf den besagten 2000 Hektar? Hauptsächlich Acker, Gras und Kühe. Das Unternehmen hat sich neben dem Ackerbau auf Mutterkuhhaltung spezialisiert, d.h. auf die „Produktion“ von Kälbern. Die weiblichen Kälber werden entweder selbst Mutterkühe oder zusammen mit den männlichen Kälbern als Schlachtfärsen in Richtung Berlin verkauft. Rund 150 Kühe gibt es, der Großteil davon weiße Charolais-Rinder, der Rest rotes Harzer Höhenvieh. Der Betrieb ist über das Naturland-Siegel zertifiziert und Mitglied im DeFaF als auch in der AbL. 600 Hektar des Dauergrünlandes sind übrigens Elbwiesen, der Ausblick ist fantastisch. Ansonsten sind die Böden hier aufgrund eiszeitlicher Vorgänge schlecht, ganz anders als in der nicht weit entfernten Magdeburger Börde. Was hier schon als guter Boden gilt, ist in anderen Teilen Deutschlands gerade mal das untere Ende der Bodenpunkte-Skala. Trotzdem gibt es eine ganze Menge zu sehen. Christian und seine Mitarbeiterin Uta versuchen, uns im Schnelldurchlauf so viel wie möglich zu zeigen.

Christian fährt mit uns zu den verschiedenen Flächen, die alle zum Betrieb gehören und stellt uns seine Mitarbeiter vor. Von Danny, der einen erfolgreichen Tiktok-Kanal über die Arbeit auf den Feldern betreibt, bis hin zu Hans-Otto, der mit 80 Jahren noch leidenschaftlich gerne Traktor fährt, aber kein Handy besitzt – die Mischung ist bunt. Wir dürfen hier und da mitfahren und beim Wässern der Agroforststreifen oder Umsetzen der Bäume auf einer Waldfläche helfen. Außerdem zeigt uns Christian natürlich die Heuernte auf den Elbwiesen, die verschiedenen Stallanlagen und die Bio-Rinderhaltung mit angeschlossener Schlachterei, die seine Schwester in einem Nachbarort betreibt. Abends helfen wir dabei, Lupine für die Handaufzucht der Kälber zu ernten. Außerdem stiefeln wir am nächsten Tag mit ihm durchs hohe nasse Gras, auf der Suche nach Rehkitzen. Drei können wir per Wärmebilddrohne ausfindig machen, damit sie wenige Stunden später nicht vom Mähwerk zu Brei verarbeitet werden. Außer bei der Rehkitzsuche redet Christian übrigens wie ein Wasserfall und meine Ohren brauchen eine Weile, bis sie mitkommen. Aber es gibt auch wahnsinnig viel zu erzählen.

Neue Dinge ausprobieren, das scheint Christian zu lieben – ständig tauscht er mit anderen Landwirt*innen Flächen, um irgendetwas zu verändern und zu verbessern. Unter anderem wird gerade getestet, welche Baum- und Pflanzenarten sich für eine geplante große Agroforstfläche eignen. 150 Hektar umfasst das Feld – ohne ein einziges Gehölz, das den Wind brechen würde. Denn die Fläche war früher Einflugschneise für einen sowjetischen Armeestandort und dementsprechend ist sie ratzekahl. Außerdem liefen in der DDR riesige Regner über die Fläche. Austrocknung und Winderosion sind seitdem vorprogrammiert, und das bei ohnehin schlechtem Boden. Aber auch ganz grundsätzlich liegen Christian Artenvielfalt und öffentliches Bewusstsein für das Thema am Herzen. Nicht zuletzt deswegen kooperiert er mit fünf lokalen Imker*innen, hängt Nistkästen an seinen Stallgebäuden auf und baut einen Streifen essbarer Sträucher dort an, wo der Elberadweg durch das Dorf Cobbel führt.

Zurück im Büro zeigt Christian uns am PC die Software, in der er die Flächen markieren und den unzähligen einzelnen Förderprogrammen des Bundeslandes oder der EU zuweisen muss. Aber damit ist es nicht getan. Alles was bewilligt, abgelehnt oder geändert wird, muss ausgedruckt und abgeheftet werden. Viele, viele Aktenordner reihen sich mittlerweile aneinander und ein Ende ist nicht in Sicht. Immer mehr Zeit geht dafür drauf, die eigene Arbeit zu dokumentieren und zu verwalten. Der Betrieb finanziert sich zu 70% durch Subventionen, in der Regel für Naturschutzprogramme – in gewisser Hinsicht ist es irre, dass ein Unternehmen, dass so etwas Grundlegendes wie Lebensmittel produziert, nur durch staatliche Unterstützung überleben kann. Und es ist ja nicht gerade ein kleiner Betrieb. Deswegen legen sie in Cobbel auch Wert darauf, dass sie kein Bauernhof und keine Bauernfamilie sind, sondern eben ein landwirtschaftlicher Betrieb. Christians Frau arbeitet in einer ganz anderen Branche, seine Tochter hat gerade das Abitur gemacht.

Trotz der kurzen Zeit, die wir nur hier sind, läuft das Leben spürbar anders als in der Großstadt. Man kennt sich, man hilft sich untereinander. Vor allem bei sehr kleinen Flächen, für deren Bewirtschaftung die Anschaffung eigener Maschinen nicht rentabel wäre. Warum sind die Menschen dann so unzufrieden und wählen überdurchschnittlich oft undemokratische Parteien? Christian erklärt es uns so: Egal welche Partei man in den letzten Jahren oder Jahrzehnten gewählt habe, die Lebensumstände vor Ort seien immer schlechter geworden – Schulen machen zu, die Gesundheitsversorgung sei bestenfalls lückenhaft. Früher hatte Tangerhütte eine Poliklinik, heute müssen die Menschen zur nächsten Facharztpraxis ins 45 Kilometer entfernte Magdeburg fahren – und auch da sind die Termine rar. Außerdem sei die Migrationspolitik ein Thema. Christian war übrigens selbst mal ein paar Jahre Ortsvorsteher von Cobbel, hat dann aber wieder aufgegeben – zu viel Bürokratie, zu wenig Spielraum seit den Eingemeindungen. Genug zu tun hat er ohnehin: Wenn das Wetter passt, muss es in der Landwirtschaft schnell gehen. Aktuell steht die Heuernte an. Alle Mitarbeiter müssen anpacken, auch wenn es Wochenende ist und eigentlich die Grillparty oder das Schwimmbad rufen. Und auch wenn das Wetter dieses Jahr eher ungeeignet ist, muss trotzdem das Heu gemäht werden – weil die Naturschutz-Fördervorgaben es so verlangen und der Termin auf dem Papier sich nicht für das Wetter da draußen interessiert. Es gibt sicherlich viele Landwirt*innen, denen das sauer aufstößt – Heu von schlechter Qualität erzeugen zu müssen, nur weil sonst die Fördergelder nicht fließen und ohne Fördergelder die Überbrückungskredite nicht abbezahlt werden können. Wie viel in so einem Betrieb auf Kante genäht werden muss, war mir vorher nicht bewusst. Immer mehr Betriebe in der Umgebung von Tangerhütte geben auf – der Milchpreis ist zu niedrig, die Pachtpreise steigen durch Landgrabbing (finanzstarke Holdings aus Fremdbranchen kaufen Flächen als Investitionsobjekt auf) oder durch die Versteigerung ehemaliger Treuhandflächen, es fehlen Arbeitskräfte. Körperlich anstrengend, spontane Einsätze, Urlaub quasi nur außerhalb der Saison und reich wird man auch nicht gerade – in der Regel reißt sich niemand um Jobs in der Landwirtschaft. Über das unter Städter*innen viel diskutierte Thema „Work-Life-Balance“ können Christian Warnke und seine Angestellten eigentlich nur müde lächeln. Und trotzdem machen sie ihren Job gerne – den Kreislauf am Leben halten, Lebensmittel produzieren, mit Tieren arbeiten, die Jahreszeiten erleben – an dieser Stelle ist es vielleicht doch so, wie man es sich ausmalt, das Landleben. Nur die Rückkehr zu kleinbäuerlichen, familienbetriebenen Höfen – die wird wohl nicht kommen.

Im Erstberuf ist Christian übrigens gar nicht Landwirt, sondern studierte Physik und anschließend Geschichte. Geschäftsführer der Warnke Agrar GmbH wurde er eigentlich nur, weil sein Vater aus gesundheitlichen Gründen plötzlich nicht mehr weitermachen konnte. In Geschichte promoviert Christian parallel immer noch (auch wenn er langsam zum Ende kommen müsste) – über Urkundenfälschung im Mittelalter. Und einen Verein für Ortsgeschichte hat er auch gegründet. Als wir Christians Frau fragen, wie er seine tausend Interessen und Verpflichtungen unter einen Hut bekommt, sagt sie lächelnd: „Wenig Schlaf, viel Kaffee. Sein Energielevel war schon immer höher als bei anderen Menschen.“ Und so kommt es, dass er nicht nur 2000 Hektar bewirtschaftet, sondern Uta und er auch noch uns Neugierige herumführen, zwei Neuntklässlerinnen für drei Wochen als Praktikantinnen da sind und Christian am liebsten noch diverse Inkubatorenprojekte auf seinen Flächen anschieben würde – ein Hühnermobil zur Eierproduktion oder ein Mehrgenerationenhaus zum Beispiel. An Ideen mangelt es ihm nicht. Und das in einer Branche, über die er selbst sagt: Ein guter Tag ist einer ohne Katastrophen (oder sonstige Dinge, die alles über den Haufen werfen). Unser letzter Tagesordnungspunkt in Cobbel war übrigens ein Besuch bei einer experimentellen Schneckenfarm gleich nebenan. Deren Betreiberin kritisiert an der aktuellen Landwirtschaftspolitik ganz andere Punkte, aber das ergäbe einen zweiten Artikel.


Claudia (33) interessiert sich nur „nebenberuflich“ für nachhaltige Landwirtschaft und hat im März einen Kurs zu syntropischem Agroforst belegt. 2024 hat sie das erste Mal an "Hof mit Zukunft" teilgenommen.

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