Eine bäuerliche Protestbewegung der Extraklasse
Am 27.September 2020 hat die Regierung des Premierministers Modi auf einen Schlag ein Agrargesetzpaket (Indian Farmer’s Bill) verabschiedet – und zwar gänzlich ohne die Landwirt*innen in die Gestaltung dieser extremen Agrarreform miteinzubeziehen und auch gegen die geschlossene Ablehnung der gesamten Opposition. Das Gesetzespaket soll eine weitere Deregulierung der Agrarmärkte in Indien bewirken und dem freien Markt vollkommenen Zugriff auf agrarische Produkte gewährleisten. Es geht um drei Verordnungen zu Regulierungen mit so sperrigen Überschriften wie „Die Verordnung (Änderung) über essentielle Güter“, „Der Handel und Kommerz mit bäuerlichen Erzeugnissen“ und „Die Vereinbarung über Preissicherung und die Verordnung über landwirtschaftliche Dienstleistungen“.
Seit bald vier Jahren gibt es bereits Massenproteste der BäuerInnen in Indien, die eine ganz andere, umfassende Agrarreform fordern. Gründe für die Proteste gibt es genug: Allein im Jahr 2019 haben über 10.000 BäuerInnen in Indien Suizid begangen. Menschen sind bitterarm, Hunger ist verbreitet, und das, obwohl Indien mehr produziert, als es für die eigene Ernährungssicherung bräuchte. Finanzierung und Kreditvergabe sind derart gestaltet, dass sie Bäuer*innen nicht voranbringen, sondern in Schuldenfallen laufen lassen, aus denen sie nie wieder herauskommen. Ein Viertel der produzierten Lebensmittel verdirbt, teilweise schon bevor sie Menschen erreichen oder von den ebenso armen Produzent*innen überhaupt auf einem Markt verkauft werden können. Um das zu verändern, müsste es Förderungen für Lagerkapazitäten bei den Betrieben, Transportmöglichkeiten und Kühltechnik geben.
FREIER ZUGRIFF AUF DEN INDISCHEN AGRARSEKTOR
Doch die nun verabschiedeten Gesetzespakete sind das genaue Gegenteil dessen, wofür die Bäuer*innen und ihre Organisationen seit Jahren kämpfen. Sie fordern primär gesicherte Preise und dafür mehr Marktregulierung. Was nun verabschiedet wurde, ist vor allem dazu geeignet, eine komplette Deregulierung zu schaffen und großen Konzernen den freien Zugriff auf den indischen Agrarsektor zu ermöglichen.
Die bisherigen Marktregulierungen wurden vor allem auf den sogenannten „Madis“ umgesetzt. Madis sind lokale Märkte für regionale Produkte, auf denen die Bäuer*innen staatlich gesicherte Mindestpreise für Produkte erhalten. Ein Problem der Madis besteht darin, dass wenige Mittelsmänner und zu viel Korruption oft preisbestimmend sind und nur die größeren Betriebe sich überhaupt die Lizenzen für den Verkauf auf diesen registrierten Märkten leisten können. Trotz aller Probleme sind die Regionen, in denen mehr Madis etabliert sind, auch die Regionen, in denen es den Landwirt*innen grundsätzlich besser geht als dort, wo es keine oder wenige Madis gibt. Die gesicherten Mindestpreise der Madis haben außerdem eine Signalwirkung für die Preisgestaltung der kleinsten und marginalisierten Bäuer*innen in der Umgebung, selbst wenn diese nicht auf dem Madi verkaufen können. Dies ist wichtig, denn mehr als 85 % der indischen Bäuer*innen bewirtschaften weniger als zwei Hektar und fallen in diese Kategorie.
Die neuen Gesetzentwürfe gefährden die Existenz der Madis, anstatt sie zu verbessern oder gar auszuweiten. Sie sehen vor, dass die Bäuer*innen individuell mit den großen Konzernen private Verträge aushandeln müssen ohne schützende Intervention oder Vertretung. Anstatt dem Hunger in Indien zu begegnen, geben sie privaten Käufern die Möglichkeit, unbegrenzt Lebensmittel zu horten und diese, wenn der Markt für sie günstig ist, zu Höchstpreisen zu veräußern. An die Bäuer*innen werden die guten Preise sicher nicht durchgereicht werden. Auch wenn der subventionierte Vorratskauf, der bisher der indischen Regierung vorbehalten war, dafür kritisiert wurde, dass er es förderte, dass Bäuer*innen vermehrt nur die subventionsfähigen Produkte anbauten, so wünschten sich die Menschen Reformen, die diesem Problem entgegenwirken und nicht dem freien Markt den Zugriff auf die sowieso schon gefährdete Ernährungssicherung aller Inder*innen schenken.
All dies in einer Situation, in der es den Menschen im gesamten Land durch den Ausbruch von Covid-19 sowieso schon schlecht geht, ist nun in einer Wut explodiert, die der Modi-Regierung wirklich gefährlich werden kann. Da 60 % der Menschen in Indien in der Landwirtschaft tätig sind, ist dies auch prozentual eine Macht, mit der nur eine ignorante und in ihrer Elite vollkommen abgehobene Regierungsklasse vergisst zu rechnen.
VIELFÄLTIGE TEILNEHMENDE UND STRATEGIEN
So ist es auch nicht verwunderlich, dass bei den jetzigen Protesten große und kleine Produzent*innen sowie bäuerliche Organisationen und Gewerkschaften verschiedener Hintergründe gemeinsam Sturm laufen. Sie haben auch allen Grund für Misstrauen. Viele haben bereits die Arbeitsmarktreformen miterlebt, die von dieser Regierung verabschiedet wurden. Sie wissen, dass eine Regierung, die das Streikrecht so kriminalisiert, dass fast jeder mögliche Streik mit hohen Geldstrafen, Gefängnisstrafen oder einer Schließung der partizipierenden Gewerkschaften enden kann, mit bäuerlichen Rechten vermutlich ebenso verfährt. Seit mehr als zwei Monaten blockieren tausende Bäuer*innen alle Hauptzufahrtsstraßen und Autobahnen nach Neu Delhi. Manche der Blockaden sind wie kleine Städte organisiert. Es gibt medizinische Zentren für alle, öffentliche Küchen (für streikende Bäuer*innen, aber auch als Armenspeisung), Trinkwasserbereitung, Milch- und Teeküchen und vieles mehr. Protestierende bäuerliche Familien aus weiter entfernten Landesteilen beteiligen sich an den Blockaden in Schichten und wechseln sich mit Angehörigen zwischen Betrieb und Blockade ab. Dezentral finden in dem riesigen Land unzählige weitere Proteste und Blockaden statt. Auch wenn die Polizei in aller Härte gegen die Proteste vorgeht, selbst Gräben aushebt, um die Anreise von Bäuer*innen zu den Protesten und in die Städte zu verhindern oder oppositionelle Abgeordnete, die die Bauernproteste unterstützen, teilweise unter Hausarrest gesetzt wurden, so ist die Stärke, mit der über viele Unterschiede hinweg gemeinsam agiert wird – und auch die schiere Zahl von Indiens Bäuer*innen – vielleicht die größte Macht, die einen neoliberalen und faschistoiden Premier Modi und seine Regierung in die Knie zwingen wird.
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