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Eine kurze Geschichte des Lebensmittelhandels

Anfang der 1980er Jahre in einer Berliner Milljö-Kneipe »Bei Kalle«. Der Präsident des Bundes­kartellamts, Wolfgang Kartte, hat ein Dutzend Gäste, vorwiegend aus dem Lebensmittelhandel, eingeladen. Es gibt eine deftige Ansprache, bei der von Schleuderpreisen und Verdrängungs­wettbewerb die Rede ist: „Wie könnt ihr euch gegenseitig so auspressen, ihr macht euch die ganze Branche kaputt.“ [1] Zehntausende von kleinen Händlern müssten bald aufgeben, weil sie bei den vielen Sonderangeboten unter Einkaufspreis, die von den großen Supermarktketten angeboten würden, nicht mithalten könnten. Gemeint sind die Chefs von Rewe und Edeka, von Tengelmann und Metro, Aldi und Co op. Am Ende, so warnt der Kartellamtspräsident immer wieder, würden fünf oder sechs Handelsgiganten entscheiden, was die Hausfrau am Sonntag in den Kochtopf tut.[2]

Die Vorhersage vom damaligen Präsidenten des Bundeskartellamts erweist sich als richtig. 1999 verfügen acht Supermarktketten bereits über einen Marktanteil von 70 Prozent. Im Jahr 2011 dominieren nur noch vier große Supermarktketten den Lebensmitteleinzelhandel.[3] Seitdem hat sich das Machtungleichgewicht noch weiter verschärft. Die Politik und das Bundeskartellamt haben diese fatale Entwicklung nicht verhindert, sondern zugelassen. Edeka, Rewe, Aldi sowie die Schwarz Gruppe mit Lidl und Kaufland stehen heute für mehr als 85 Prozent des Marktes.[4] Sie drücken ihre Lieferanten und Landwirtinnen systematisch im Preis und zwingen sie für Kosten zu zahlen, die bei ihnen selbst anfallen.[5] In den Corona-Jahren erzielen sie Rekordumsätze - und setzen ihre ruinöse Einkaufspolitik zulasten von Landwirten, Arbeiterinnen, Tieren und Umwelt fort. Diese unfairen Knebelverträge wird es so lange geben, bis das ursächliche Machtungleichgewicht beseitigt ist.[6] Eine maßvolle Entflechtung ist der vielversprechendste Weg, ein Machtgleichgewicht weitestgehend wiederherzustellen und faire Lebensmärkte zu ermöglichen.[7]

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Ein Blick in die Geschichte hilft, um diese Entwicklung nachzuvollziehen. Edeka ist das größte und älteste Handelsunternehmen. 1898 gründen Kaufleute in Berlin die „Einkaufgenossenschaft für Kolonialwarenhändler“ (E.d.K). Als Kolonialwaren gelten damals Kaffee, Tee, Kakao, Zucker, Tabak, Reis oder Gewürze. Für Edeka ist Kolonialwarenhändler auch heute noch eine exotische Bezeichnung.[8] 1911 wird E.d.K. zu Edeka. Dies ist die Zeit der kleinen Lebensmittel­läden. Tante-Emma-Läden werden sie liebevoll genannt. Die Geschichte der Aldi-Supermärkte beginnt mit einem solchen kleinen Laden in Essen-Schonnebeck im Jahr 1913. Zunächst mit Backwaren, wenig später kommen Lebensmittel hinzu.[9] Lidl hingegen startet 1930 als Großhändler mit einem breiten Sortiment und eröffnet seine erste Filiale 1973 in Ludwigshafen-Mundenheim.[10] Die Kölner Supermarktkette Rewe gibt es in ihrer heutigen Form erst seit 2006, aber ihre Geschichte geht auf das Jahr 1927 zurück, als der Revisionsverband der Westkauf-Genossenschaften ins Leben gerufen wird.[11] Die marktmächtigen Supermarktketten von heute gibt es also seit ungefähr 90 bis 120 Jahren. Ihre technischen Neuerungen wie Selbstbedienungsläden, Einkaufswägen, Barcodes und Scannerkassen kommen vordienlich aus den USA.

In Deutschland eröffnet der Kaufmann Herbert Eklöh 1938 in der Kölner Rheinlandhalle das erste Geschäft mit Selbstbedienung.[12] Kunden können sich nun selbst Lebensmittel aus den Regalen nehmen. Ein Trend wird dies aber erst in den 1950er Jahren. Der erste Edeka-Supermarkt mit Selbstbedienung entsteht 1953 in Saarbrücken. Die Gebrüder Albrecht führen 1954 die ersten Selbstbedienungsläden ein.[13] Ein Jahr nach der Gründung von Aldi Nord und Aldi Süd im Jahr 1961 bieten sie Lebensmittel zum Dauerniedrigpreis direkt aus Kartons auf Paletten zur Selbstbedienung an. Das ist die Geburtsstunde des Discountprinzips und der Eigenmarken. Zu der Zeit können die Lebensmittelhersteller den Kaufmannsläden und den Supermärkten noch den Ladenverkaufspreis ihrer Waren vorgeben. Um diese „Preisbindung der zweiten Hand“ zu umgehen, lassen die Aldi-Brüder Karl und Theo Albrecht ihre Produkte[14] unter eigenem Namen selbst herstellen. Eigenmarken oder Handelsmarken heißen solche Produkte.

Die Preisbindung soll kleine und mittelständische Unternehmen schützen.[15] Markenhersteller und mittelständische Einzelhändler fürchten denn auch, ohne sie im Preiskampf in die Knie gezwungen zu werden. Lieferboykotte der Hersteller können den Verfall der Preisbindung nicht verhindern.[16] Im Gegenteil: Supermärkte ersetzen erste Markenartikel durch Eigenmarken. 1974 wird die Preisbindung von einer weniger mittelstandsfreundlichen Regierung gesetzlich verboten.[17] Der Wettbewerb findet nunmehr über den Preis statt. In den 1970er Jahren ändert sich noch etwas. Es kommt zu einer technischen Revolution des Registrierprozesses an der Kasse. Ein Augs­burger Verbrauchermarkt der „Carl Doderer KG“ – es gehört später zur Schwarz-Gruppe – führt als erstes Unternehmen in Deutschland Scanner-Kassen ein. Bei Edeka wird die erste 1981 installiert. Kundinnen können nun wie am Fließband abgefertigt werden. Schnelligkeit zählt, Leistungsanforderungen steigen. Weniger als zwei Sekunden. So schnell kann eine Kassiererin ein Produkt registrieren. Die Zielvorgabe bei einem Discounter liegt bei 1,2 Sekunden.[18]
 

Im Haifischbecken des Lebensmittelhandels

Das Ende der Preisbindung besiegelt das weitgehende Ende der Tante-Emma-Läden.[19] Das Geschäftsmodell der Supermärkte setzt sich durch. Gleichzeitig können die fünf größten Super­marktketten ihre Marktposition ausbauen. Ihre Marktanteile steigen von 26 Prozent in 1980 (Westdeutschland) über 45 Prozent im Jahr 1990 auf 62 Prozent in Jahr 2000.[20] Jedes Jahrzehnt ungefähr ein Plus von 20 Prozent. In den 1980er Jahren rollt eine Übernahmewelle im Lebensmittel­­einzelhandel durchs Land. Manager geben sich beim Bundeskartellamt fast täglich die Klinke in die Hand. Wettbewerber aufzukaufen wird der Schlüssel zum Aufstieg in die bundesweite Spitzengruppe. Rewe ist bei Übernahmen von Anfang an ganz vorne mit dabei. Zwischen 1980 und 1987 meldet der Konzern die meisten Übernahmen, er kauft 75 Firmen mit einem Umsatz von insgesamt drei Milliarden Mark auf.[21]
 

Es ist ein bisschen wie beim Gesellschaftsspiel „Fang den Hut“. Kennen Sie es noch? Beim Spiel geht es darum, schneller als andere Mitspieler*innen viele Hütchen der Gegner zu erhaschen, möglichst ohne selbst geschnappt zu werden. Mit jedem gefangenen Hut wird die Hütchen-Besitzer*in größer. So ist es auch bei Übernahmen. Mit jeder Übernahme wachsen der Umsatz und die Unternehmens­größe. Viele ehemals bedeutende regionale Supermärkte und Handelsriesen verschwinden, ihre Namen werden vielen von ihnen möglicherweise nichts mehr sagen: Pfannkuch, Latscha, Co-op. Vielleicht kennen Sie noch regionale Traditionsgeschäfte wie die Freiburger „Gottlieb“-Märkte[22], die Berliner Bolle-Märkte[23] oder die fränkischen Kupsch-Märkte?[24] Auch Handelsriesen, die noch Ende des letzten Jahrhunderts zu der Spitzengruppe im Lebensmittelhandel gehören, verschwinden. Im Haifischbecken des Lebensmittelhandels werden anfänglich kleine und mittlere, später auch große Fische gefressen.

Zum Beispiel Tengelmann. Die Fusion mit Kaiser’s im Jahr 1971 macht den Konzern zum Handels­riesen. Nur die großen Kaufhäuser Horten, Kaufhof, Hertie und Karstadt übertreffen zu der Zeit Tengelmann als Einzelunternehmen.[25] Lebensmittelgeschäfte wechseln mehrfach den Besitzer, bevor sie in die Hände von Tengelmann gelangen. So gehen die Filialen der Firma Schade & Füllgrabe im Rhein-Main-Gebiet zunächst an Werhahn, diese verkauft das Unternehmen an die Coop AG, welche sie wiederum an die Asko Deutsche Kaufhaus AG abgibt, die sie dann 1988 an Tengelmann verkauft.[26] Noch 1993/94 gehört Tengelmann zusammen mit Rewe, Metro/Asko und Aldi zur Spitzen­gruppe des Lebensmittelhandels.[27] Wesentlicher Teil des Konzerns sind Supermärkte (Kaiser´s), Baumärkte (Obi), Textilmärkte (Kik) und Discountmärkte (Plus).

2008 kann Edeka die Plus-Märkte von Tengelmann übernehmen, 2016 seine Kaiser’s Supermärkte und zum 1.1.2021 die verbliebene 10-prozentige Beteiligung der Tengelmann-Gruppe an der Filialkette Netto.[28] Auch das einstige Leibbrand-Imperium mit Sitz in Bad Homburg verdankt seine bundesweite Stärke den Aufkäufen von Mitwettbewerbern. Mit der Rewe im Rücken übernimmt die Gruppe im Jahr 1977 das alteingesessene Frankfurter Familienunter­nehmen Latscha, später folgen unter anderem der Discounter Hartfil in Niedersachsen oder die Big-Bär-Filialen in Norddeutschland.[29] Noch ein Jahr bevor die Leibbrand-Gruppe 1989 in die Rewe eingegliedert wird, übernimmt sie selbst die Filialisten Deutscher Supermarkt, Desuma, Otto Mess und Hill. Zur Leibbrand-Gruppe gehören auch HL-Markt, miniMal, Penny sowie die idea-Drogerien.

Edeka und Rewe sind Paradebeispiele für Unternehmenswachstum durch Übernahmen. Während Rewe seit 1980 zu den Top 5 gehört, büßt Edeka seine Spitzenposition in den 1980er Jahren ein. Die Supermarktkette reduziert daraufhin mit grundlegenden Strukturreformen Ende der 1980er Jahre und ab 2000 seine Regionalgesellschaften auf sieben, um Größenvorteile zu realisieren.[30] Den Durchbruch erzielt Edeka dann mit der Übernahme des Marktkaufbetreibers AVA im Jahr 2002[31][32] sowie der Spar AG und dem Netto Marken-Discount im Jahr 2005.[33] Spar selbst ist nach der Wende durch zahlreiche Übernahmen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, den neuen Bundesländern und in Berlin gewachsen. Seit 2005 ist die genossenschaftlich organisierte Edeka der größte deutsche Lebensmittelhändler. Mit der Übernahme von Plus- und Kaiser’s-Märkten und einigen real-Märkten kann Edeka seine Spitzenposition weiter ausbauen.

Rewe ist seit 2008 wieder die Nummer 2 im Lebensmittelhandel. Der Handelskonzern kann mit der Übernahme der Extra-Gruppe von Metro seine Machtposition ausbauen.[34] Extra-Supermärkte gibt es seit 1970. Sie werden Anfang 1970 von der Schaper-Gruppe eröffnet und 1987 von der Asko-Gruppe übernommen. Asko wiederum geht 1996 vollständig in den Besitz des Metro-Konzerns über. Für die Metro ist der Verkauf der extra-Märkte, die 1,6 Milliarden Euro umsetzen, offensichtlich ein lukratives Geschäft. Sie erhält den stolzen Preis von rund einer halben Milliarde Euro und die Metro-Aktie verzeichnet einen Tag nach der Veröffentlichung des Verkaufs einen Anstieg von drei Prozent.[35] Es wird zu der Zeit vermutet, dass der Erfolg die Metro animieren könnte, sich auch von seinen Tochterfirmen Kaufhof und Real zu trennen. So kommt es auch: der Kaufhof geht 2015 an den kanadischen Handelskonzern Hudson’s Bay[36] und die real-Märkte 2021 an Kaufland, Edeka, Globus und Rewe. Kaum zu glauben, dass der Metro-Konzern im Jahr 2000 noch der größte Lebensmitteleinzelhändler war.[37]
 

Mehr Discounter, mehr im Osten

Die westdeutschen Supermarktketten dominieren auch den ostdeutschen Lebensmittelhandel. Es ist erstaunlich, dass jenseits der Tätigkeitsberichte des Bundeskartellamts keine Informationen über die Umbrüche im Lebensmittelhandel nach 1989 zu finden sind. Ilko-Sascha Kowalczuk beschreibt in seinem erhellenden Buch „Die Übernahme“, wie die ostdeutsche Wirtschaft radikal umgestaltet wird und welche schwerwiegenden sozialen Folgen diese hat. Auch im Lebensmittelhandel vollzieht sich eine grundlegende Umstrukturierung in rasanter Geschwindigkeit. Rewe, Edeka, Tengelmann und Kaufland sind beim Rennen um die besten Standorte ganz vorne mit dabei. Nach der Öffnung der Grenze bereiten sie in ihren Zentralen in Neckarsulm, Köln, Essen, Mühlheim oder Hamburg die Expansion in den Osten vor. Für Rewe ist der Osten eine Gold­grube, aber sicherlich nicht nur für Rewe. [38]

Bereits im Jahr 1991 sind alle Standorte des volkseigenen Handelsunternehmens HO, die schwerpunktmäßig in den Ballungszentren angesiedelt sind, von der Treuhandanstalt privatisiert. Aufkäufer sind in den meisten Fällen große westdeutsche Supermarktketten. Kleinere Anbieter des Lebensmitteleinzelhandels sind kaum beteiligt. Der genossenschaftliche Konsum, der vor allem den ländlichen Raum versorgt, ist in einer ungünstigeren Ausgangslage was die Lage und die Qualität der Standorte angeht. Die Konsumgenossenschaften versuchen zunächst, den Geschäftsbetrieb zu sanieren und selbständig fortzuführen. Trotz ihrer Bemühungen kann sich nur ein Teil im Markt halten. Für über sieben der dreizehn neuentstandenen Konsumgenossen­schaften eröffnet das Bundeskartellamt ein Gesamtvollstreckungsverfahren. Edeka Handelsge­sellschaften sind auch bei dieser zweiten Übernahmerunde auf der Käuferseite vertreten.[39] Edeka und die Spar-Gruppe können durch eine Reihe von Übernahmen gerade in den neuen Bundesländern und Berlin ihre Marktposition ausbauen.

Die Spar-Gruppe ist frühzeitig und mit am stärksten an Übernahmen beteiligt. In der ersten Über­nahmerunde kauft sie mehr als 400 „Kaufhallen" und etwa 1600 kleinere Lebensmittelgeschäfte mit einem Bruttoumsatz von etwa 4,5 Mrd. DM auf, vor allem in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.[40] Die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland baut ihre Präsenz in den ost­deutschen Bundesländern im Wesentlichen ohne Übernahmen aus.[41] Heute gibt es in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen deutlich mehr Discounter als Supermärkte. Es gibt Regionen in Ost­deutschland, wo es mehrere Discounter aber keinen Supermarkt gibt.[42] Ein wichtiger Grund ist sicherlich die geringere Kaufkraft, die auch in den niedrigeren Ost-Löhnen begründet ist.[43] Der Niedriglohnsektor ist im Vergleich zum Westen sehr groß, auch wenn der Anteil der ostdeutschen Niedriglohnempfänger*innen in den letzten zehn Jahren um rund zehn Prozent gesunken ist.[44]

Das Discount-Modell dominiert heute den gesamtdeutschen Lebensmittelhandel. Im Jahr 2020 beträgt der Umsatzanteil der Discounter 42 Prozent.[45] Die Entwicklung beginnt in den 1960er Jahren, als Aldi und danach Norma ihre ersten Discounter eröffnen. Andere Supermarktketten folgen in den frühen 1970er Jahre. Den Anfang machen die traditionsreichen Familienunternehmen Tengelmann und Leibbrand (später Rewe) mit ihren Discountern Plus und Penny 1972 bzw. 1973. Die Schwarz-Gruppe steigt ebenso 1973 in das Discount-Geschäft ein, beginnt aber erst 1978 mit der Verbreitung seiner Lidl-Geschäfte. Netto (später Edeka) öffnet seine Discoun­termärkte im Jahr 1984.[46] Mit Sonderange­boten und Dauerniedrigpreisen locken sie die Kunden in ihre Geschäfte. Die Wachstumsphase der Discounter findet vor allen in den 1990er und Anfang der 2000er Jahren statt. Ihr Umsatzanteil steigt von ca. 24 Prozent im Jahr 1990 auf 41 Prozent 2005.[47]

Discounter liegen zu der Zeit voll im Trend. Handelsexperten warnen gar: „Wer zu früh einkauft, den bestraft das Sonderangebot“. Es ist von der „Aldisierung“ bzw. Discountisierung“ der Gesell-schaft und einer „billigen Gesellschaft“ die Rede.[48] Aldi gilt vielfach als Preisführer und Lidl als Aldi-Jäger. Rabattschlachten und Preiskämpfe im Lebensmittelhandel sind an der Tagesordnung. So senkt Aldi im September 2009 zum zehnten Mal im Jahr die Preise. Edeka, Rewe und Lidl geben an, schnell nachziehen zu wollen.[49] An der aggressiven Preiswerbung und am Billigpreis-wettbewerb ändert sich auch in den Folgejahren nichts. Erst 2020 vermeldet die Gesellschaft für Konsumforschung, dass für eine Mehrheit von 55 Prozent der Verbraucher und Verbraucherinnen nicht mehr der Preis, sondern die Qualität und das Einkaufserlebnis kaufentscheidend ist. Das Verhältnis hat sich im Vergleich von vor zehn Jahren umgekehrt.[50] Trends hin zu Bio, vegan und fair gehandelten Lebensmitteln sind nicht ohne Grund schon länger bei Supermärkten und bei Discountern zu beobachten.[51]
 

Ob Bio oder konventionell, Handel ist Handel

„Bio kommt im Mainstream an“, titelt die Gesellschaft für Konsumforschung im Jahr 2017. Der Nachhaltigkeitsgedanke spielt im Bewusstsein und beim Einkauf eine immer größere Rolle. Das macht sich auch an den Umsätzen bei Bio-Lebensmitteln bemerkbar. Ihr Marktanteil am gesamten Lebensmittelmarkt steigt von 2,6 Prozent im Jahr 2006 auf 6,4 Prozent im Jahr 2020.[52] Positiv ist hierbei, dass der Anstieg der Umsätze zum größten Teil aus größeren Verkaufsmen­gen resultiert.[53] Und wo kaufen die Deutschen ihre Bio-Lebensmittel? Bei Vollsortimentern wie Edeka, Rewe und Kaufland, den Discountern und den Drogeriemärkten. 60 Prozent der Bio-Lebensmittel gehen bei ihnen über die Ladentheke. Die marktmächtigen Supermarktketten dominieren den Handel mit Lebensmitteln nicht nur im konventionellen, sondern auch im Bio-Bereich. Tendenz steigend. Ihr Anteil hat sich seit 2003 fast verdoppelt.[54]

Im Bio-Fachhandel zeigt sich mit Blick auf die Zahl der Verkaufsstellen noch das umgekehrte Bild. Im Jahr 2017 entfallen 60 Prozent der Verkaufsstellen auf Bio-Fachgeschäfte. Es werden jedoch immer weniger. Im Zeitraum 2010-2017 sinkt ihre Zahl von 1.749 auf 1.506, während die Zahl der Bio-Hofläden um 10 Prozent auf 332 steigt und die Bio-Supermärkte ihr Filialnetz von 295 auf 678 Märkte ausbauen.[55] Der Preisdruck durch Edeka, Aldi & Co. sowie durch die Bio-Supermärkte macht es den Bio-Fachgeschäften schwer, ihr Geschäft aufrecht zu erhalten. Den ersten Bio-Supermarkt eröffnet Alnatura 1987 in Mannheim, gefolgt von der Bio Company 1999 in Berlin-Charlottenburg und Denns im bayrischen Geretsried 2003. Der Aufstieg der Bio-Supermärkte ändert jedoch bislang nichts daran, dass die relative Bedeutung des Bio-Fachhandels gegenüber den marktmächtigen Supermarktketten sinkt.

Dazu trägt auch One-Stop-Shopping als neuer Einkaufstrend bei. Die meisten Deutschen kaufen heute alles, was sie brauchen, in einem Supermarkt ein. Rund 84,5 Prozent der befragten Per­sonen geben im Jahr 2018 an, lieber in einem Lebensmittelladen mit einem breiteren Sortiment einzukaufen, um sich den Gang in andere Geschäfte zu sparen.[56] Corona verstärkt diesen Trend noch.[57] Mittlerweile ist es je nach Wohnortlage möglicherweise mit mehr Aufwand verbunden, zum Bäcker, Metzger, Obst- oder Fischladen zu gehen. Es gibt sie für viele kaum noch in der näheren Umgebung. Beispielsweise ist die Zahl der Fleischereien, Bäckereien und Konditoreien von 55.955 im Jahr 1995[58] auf 20.270 im Jahr 2019[59] gesunken. Größere Ketten mit mehreren Filialen nehmen zu. Anstelle von hochwertigen, selbsthergestellten Lebensmitteln gibt es auch dort vorgefertigte Industrieware. Frisch ist also nicht gleich frisch.

Auch bei den Discountern gibt es seit längerem Frischetheken mit vorgefertigten, abgepackten oder aufgebackenen Waren. 2003 steigen Aldi und Lidl in das Frischfleischgeschäft ein. Innerhalb weniger Monate, nämlich von Januar bis Mai, verdoppelt sich nahezu der Marktanteil der Discounter von 12 auf 22 Prozent.[60] 2013 kommt Frischfisch hinzu[61] und 2015 frische Backwaren.[62] Die Supermärkte und Discounter sind damit zum Nahversorger für alle Lebensmittel geworden, die ein Haushalt braucht. Sie sind in Deutschland mit dem Auto bei einer durchschnitt­lichen Geschwindigkeit von 60 km/h innerhalb von 3,4 Minuten zu erreichen. Dies ist allerdings nicht überall der Fall. In ländlichen Räumen kann der nächste Supermarkt oder Discounter 15 km weit entfernt sein.[63] Den längsten Weg haben die Einwohner der Hallig Gröde (kleine Marschinsel) im Landkreis Nordfriesland. Sie brauchen fast vier Stunden.[64] Eine wohnortnahe Versorgung mit Lebensmitteln ist auch für knapp 70 Prozent der Verbraucher*innen sehr wichtig. Dies ist ein Plus von 12 Prozent im Zeitraum 2011-2018.[65]

Dies heißt aber nicht, dass auch die Lebensmittel aus der näheren Umgebung kommen. Ob die Lebensmittel wahrhaftig in der Region hergestellt werden, ist kaum nachzuvollziehen. Der Begriff „Region“ ist gesetzlich nicht definiert. Dabei sollten regionale Produkte aus der Region für die Region sein. 82 Prozent der Bevölkerung legen einen hohen Wert auf regionale Lebensmittel, insbesondere bei Frischwaren wie Obst, Gemüse, Eiern, Brot-, Fleisch- und Milchprodukten.[66] Regionale Lebensmittel werden mit Frische, Qualität und Authentizität verbunden und genießen mehr Vertrauen als industrielle Massenware. Umsatzmäßig fallen sie bei Supermärkten und Discountern noch nicht ins Gewicht. Bei Rewe beträgt der Anteil der regionalen Produkte am Gesamtumsatz mit Obst und Gemüse etwa 10 Prozent.[67] Wenn es um die Anzahl der Regional­fenster-Produkte geht, liegt Rewe 2018/19 mit 368 Produkten vorn. Bei Edeka sind es rund 300, bei Lidl 110 und bei Penny 40 Produkte. Solche Produkte gibt es auch bei Aldi, aber nähere Informationen liegen nicht vor.[68]
 

Online-Shopping – der neue Trend?

Die Corona-Pandemie hat das Einkaufverhalten der Konsumenten verändert: (nachhaltige) Herstellermarken sind zunehmend relevant, der Einkauf von Fleisch- und Käse­ersatzprodukten wächst überdurchschnittlich[69] und es wird mehr online einge­kauft.[70] Von Goldgräber­stimmung ist bei E-Food die Rede. Aber: In Deutschland kaufen die Verbrau­cher*in­nen kaum Lebensmittel online.[71] Der Anteil am Lebensmittelhandel ist sehr niedrig. Laut dem HDE Online-Monitor liegt der Anteil im Netz bestellter Lebensmittel am Gesamtumsatz im Jahr 2014 bei 0,7 Prozent, erreicht im Jahr 2017 1,1 Prozent und im Jahr 2020 2,0 Prozent.[72] Von den großen Supermarkt­ketten ist lediglich Rewe im E-Commerce aktiv. Rewe selbst setzt auf Flink, bei dem der Konzern mit 10 Prozent beteiligt ist. Rewe-Chef Lionel Souqué erklärt, dass dieses Markt­segment noch "total unprofitabel" sei. Seine Prognose: Am Ende überleben ein oder zwei Anbieter.[73] Ob sich diese Prognose bewahrheitet, wie jene vom damaligen Chef des Bundes­kartellamts, wird sich zeigen.


Marita Wiggerthale arbeitet seit vielen Jahren zu Handels- und Agrarthemen. Weitere Texte finden sich auf ihrer Website.